IVSE
Peter Walther, Präsident IVSE, im Gespräch mit Generalsekretärin Gaby Szöllösy und Thomas Schuler, Fachbereichsleiter Behindertenpolitik

IVSE

Interview mit Peter Walther, Leiter Abteilung Sonderschulung, Heime und Werkstätten bei Kanton Aargau, Präsident der IVSE

Thomas Schuler
Thomas Schuler Fachbereichsleiter

Wir seien immer noch stark in einem paternalistischen Verständnis von Förderung verhaftet, sagt Peter Walther, Präsident der interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) im Interview: Jemand ohne Behinderung glaube zu wissen, was Menschen mit Behinderungen brauchen und wie sie leben wollen. Dies zu ändern, sei ein Prozess, der eine oder zwei Generationen dauere. Das Konkordat IVSE leistet seiner Einschätzung nach heute den Kantonen noch wertvolle Unterstützung, muss aber in den nächsten zehn Jahren neu konzipiert werden.

Die IVSE ist auf stationäre Angebote für soziale Einrichtungen ausgerichtet. Funktioniert die Wahlfreiheit für Menschen mit Behinderungen, die ausserkantonal ein stationäres Angebot nutzen?

Das Zusammenspiel zwischen den Kantonen – durch die IVSE unterstützt – funktioniert sogar sehr gut. Man sieht das an der hohen Anzahl Menschen, die in einem anderen Kanton untergebracht sind als ihrem Heimkanton. Ich habe den Eindruck, dass Kantonsgrenzen bei der Wahl der Einrichtung keine wesentliche Rolle spielen.

Kann man das belegen?

Wir haben in den Kantonen eine Erhebung gemacht und da sieht man, dass zwanzig Prozent der Menschen in einem ausserkantonalen Wohnangebot leben. Das zeigt, dass man sich dort niederlassen kann, wo man will.

Früher hatten wir viel mehr Mediationsfälle wegen finanzieller Streitigkeiten zwischen zwei Kantonen.

Genau, momentan haben wir praktisch keine mehr – und dies bei rund 4500 Menschen mit Behinderungen, die in einer ausserkantonalen Einrichtung wohnen. Dies zeigt doch, dass die IVSE funktioniert. Sie erfüllt ihren Zweck.

Wir hatten auch schon negative Medienbeiträge. «10 vor 10» hat uns bei einem Fall aus dem Kanton Jura vorgeworfen, das System funktioniere nicht und beeinträchtige die Niederlassungsfreiheit.

Dass es bei dieser Anzahl ausserkantonaler Wohnsituationen immer wieder mal einen Einzelfall gibt, der nicht optimal funktioniert, ist für mich auch nicht erstaunlich. Solche Fälle diskutieren wir intensiv, weil es den Kern der IVSE tangiert. Bei der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen stellt sich immer auch die Frage, wer deren Interessen vertritt und für sie spricht.

Der Fall zeigt das Spannungsfeld der IVSE: Wenn ein Kanton ein geeignetes Angebot hat für einen Kantonsbewohner, so soll er nicht ein viel teureres Angebot in einem anderen Kanton bezahlen müssen. Gleichzeitig kann das eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit bedeuten. Was war denn das Fazit der Diskussion?

Wir vertreten klar die Haltung, dass die Niederlassungsfreiheit ein sehr hohes Gut ist. Die Frage ist, ob die Niederlassungsfreiheit aus der Perspektive der betroffenen Person verletzt worden ist. Das ist der entscheidende Punkt.

Der Megatrend geht in Richtung ambulante Leistungen – damit ein selbstbestimmtes Wohnen möglich wird. Lassen sich ambulante Leistungen innerhalb der IVSE regeln?

Die IVSE ist von der Entstehungsgeschichte her ganz klar auf stationäre Einrichtungen ausgerichtet. Ich glaube auch, dass die Philosophie, aus der die IVSE entstanden ist, aus einer anderen Zeit stammt. Selbstbestimmung hatte damals in der Schweiz noch nicht das Gewicht gehabt, das sie heute hat. ** Aber würde das denn heissen – auf den Punkt gebracht – die IVSE hat eigentlich ausgedient?**

Eine schwierige Frage. Ich denke, man muss differenzieren zwischen dem Erwachsenen- und Jugendbereich. Im Jugendbereich braucht es weiterhin diese Einrichtungen. Bei einer ausserschulischen Platzierung, die vielleicht gar gerichtlich verfügt ist, da reden wir nicht von Selbstbestimmung. Die Jugendlichen wollen nicht in diese Heime, das ist klar. In diesem Bereich funktioniert der Mecano und bedeutet grundsätzlich eine wertvolle Unterstützung für die interkantonale Nutzung der Sonderschulen und Heime. Im Erwachsenenbereich sieht es anders aus, ja. Die IVSE harmonisiert die Aufsicht, Anerkennung und regelt die ausserkantonale Finanzierung. Zudem, und das ist ein wichtiges weiteres Element, ermöglicht und fördert sie den Austausch unter den Kantonen und die Zusammenarbeit und Koordination in den Regionen, was insbesondere für kleinere Kantonen absolut entscheidend ist.

Brächte denn eine Totalrevision der IVSE etwas, um sie auf die Anforderungen der Zukunft auszurichten? Oder müsste sie sich im Gegenteil von einem Konkordat zu einer koordinativen Arbeitsgruppe wandeln?

Ganz ehrlich, ich glaube, die IVSE funktioniert so in zehn Jahren nicht mehr. Es braucht eine grundlegende Überarbeitung ihrer Funktion und Zielsetzung. Wir merken im Alltag, dass es schwierig ist, den Jugend- und den Erwachsenenbereich gemeinsam zu bearbeiten und koordinieren, auch weil die beiden Bereiche in vielen Kantonen nicht im selben Departement angesiedelt sind. Aber wie genau die zielführende Revision aussehen soll, das ist in den nächsten Jahren zu klären. Ist es eine Totalrevision der heutigen IVSE oder braucht es etwas Separates in den beiden Bereichen? Existiert die IVSE weiterhin für den stationären Bereich und wir finden ein anderes Instrument, um die Belange des ambulanten Bereichs zu klären?

Einfach aufheben kann man die IVSE nicht, oder?

Nein, wir können nicht einfach einen Strich machen, denn es steckt ein grosses finanzielles Volumen dahinter, zwischen einer halben und einer ganzen Milliarde pro Jahr nur schon im Erwachsenenbereich…

Um die ambulanten Leistungen zu regeln respektive zu koordinieren, hat die SODK jetzt Empfehlungen herausgegeben, weil sie feststellen musste, dass sich die IVSE nicht eignet für den ambulanten Bereich…

Die IVSE ist auch deshalb nicht geeignet, weil es Jahre gedauert hätte, bis sich alle Kantone wieder den Änderungen im Konkordat angeschlossen hätten, diese Erfahrung haben wir an der letzten Teilrevision machen können. Im Moment gibt es eine hohe Dynamik im Thema ambulante Leistungen: Die Kantone sind dabei, sowohl ihre Angebotspalette zu erweitern als auch Steuerungsinstrumente anzupassen. Das Tempo ist dabei ein wesentliches Element. Die Empfehlungen gingen viel schneller.

Was ist der Mehrwert der Empfehlungen?

Der erste Teil der Empfehlungen, der skizziert, wie eine gute Versorgung im ambulanten Bereich aussehen soll, ist ganz wichtig: Eine Art Vision der SODK, wie die Kantone die ambulante Versorgung ausgestalten sollen. Das gleiche gilt für die Bedarfsabklärung. Natürlich sind wir dort auch einen Kompromiss eingegangen. Es gab Stimmen, die dafür plädierten, dass die Bedarfsabklärung vollständig unabhängig sein muss von der verfügenden Behörde und von den Leistungserbringern. Viele Kantone sind aber noch lange nicht an diesem Ort, deshalb haben wir das jetzt offener formuliert. Aber das war der kleinste gemeinsame Nenner.

Gleichwohl erkennen Sie in den Empfehlungen einen neuen Spirit, eine neue Philosophie?

Absolut. Ich denke, es geht um mehr als diesen Spirit, es geht um die Ausrichtung.

Die Empfehlungen geben den Kantonen in der ersten Zeit die Möglichkeit, eine Karenzfrist einzuführen, um sich zu schützen. Finden Sie das gut?

Kantone, die ihr eigenes Angebot als sehr attraktiv einschätzen, fürchten sich vor der Sogwirkung: Sie wollen verhindern, dass Leute den Wohnsitz wechseln, weil es im besagten Kanton ein gutes Angebot gibt. Wir wissen aber heute nicht, ob die Sogwirkung wirklich so gross ist. Wir werden das jetzt gut beobachten und wenn sich zeigt, dass das Problem überschätzt wurde, hoffe ich, dass wir von der Karenzfrist abkommen. Im Kanton Aargau haben wir zurzeit keine Karenzfrist, es gäbe aber die gesetzliche Grundlage, eine einzuführen. Aber wir warten ab und beobachten.

Die Empfehlungen haben keinen rechtsbindenden Charakter, warum sind Sie zuversichtlich, dass sie trotzdem angewendet werden?

In meiner Wahrnehmung sind viele Kantone am Suchen, woran sie sich orientieren sollen. Dies verleiht den Empfehlungen Relevanz: Die SODK hat das beschlossen! Man kann es im eigenen Kanton dann besser durchsetzen gegenüber den politischen Verantwortlichen.

Gibt es faktische Hindernisse? Finden Menschen mit einer Behinderung überhaupt barrierefreie Wohnungen, die sie auch bezahlen können?

Der knappe verfügbare Wohnraum in Städten und Agglomerationen ist tatsächlich ein Thema, gerade für Menschen mit Behinderungen – wobei ja nicht alle eine körperliche Behinderung aufweisen und auf barrierefreie Wohnungen angewiesen sind. Aber es bleibt eine Hürde, ganz klar. Die grösste Hürde sind meiner Meinung nach jedoch Barrieren in den Köpfen. Wir leben immer noch in einer Welt, die stark in einem paternalistischen Verständnis von Förderung verhaftet ist, dass da jemand ohne Behinderung weiss, was Menschen mit Behinderungen brauchen und wie sie leben wollen. Dies zu ändern, ist ein Prozess, der eine oder zwei Generationen dauern wird. Auch viele Menschen mit Beeinträchtigungen selbst müssen erst die notwendigen Fähigkeiten erwerben, um selbstständig wohnen zu können.

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